Das Filmfestival Türkei Deutschland ehrt bei der 23. Auflage zwei herausragende Künstler, die mit ihrem künstlerischen Schaffen das Kino des jeweiligen Landes geprägt und über mehrere Generationen hinweg nachhaltig beeinflusst haben.

 

Volker Schlöndorff ist wohl einer der bedeutendsten und international erfolgreichsten Regisseure Deutschlands. Er besitzt eine ausgeprägte Vorliebe für Verfilmungen deutscher und internationaler Literatur. Mit Begeisterung widmet er sich Werken, die als unverfilmbar gelten und macht sie dem breiten Publikum zugänglich und verständlich. Doch auch gesellschaftskritische Arbeiten gehören zu seinem Schaffen. Anders als viele seiner Kollegen, die einst den verkommenen deutschen Film in neue Bahnen lenken wollten, setzte Volker Schlöndorff von Anfang an nie auf reines Kopf-Kino. Visionen, also Bilder und Vorstellungen, die er in bewegte Film-Bilder übersetzt, waren und sind sein Metier. Bemerkenswert und charakteristisch für Schlöndorff ist seine Erwiderung auf die rhetorische Frage „Wozu braucht der Mensch eine Identität?“ – „Als ob man ohne eine solche ein Niemand wäre.

Volker Schlöndorff erhält den Ehrenpreis des Festivals für sein vielschichtiges filmisches Gesamtwerk, das sich auch durch hohes interkulturelles Selbstverständnis auszeichnet, in denen er gesellschaftspolitische Themen meisterhaft künstlerisch aufarbeitet und sie somit einem breiten, internationalen Publikum zugänglich macht.

 

Halil Ergün ist einer der kreativsten Schauspieler der Türkei, der sich in seiner über 40-jährigen Karriere stets erneuerte und nie die Bewunderung seines Publikums nie verlor. Er hat das türkische Kino aus der Perspektive des Schauspielers mitgeprägt und zu dessen Entwicklung beigetragen. Dabei hat er sich trotz seines großen Erfolges beim breiten Publikum nie gescheut, auch an kritischen Produktionen mitzuwirken. So hat er – neben vielen Meisterregisseur*innen – auch mit Yılmaz Güney („Yol – Der Weg“) gedreht und sich und seine Karriere zugunsten seiner Ideale in Gefahr gebracht. In den späteren Jahren, in denen er in türkischen Fernsehserien auftrat, war Halil Ergün stets ein Vorbild für seine jungen Kolleg*innen. Mit seiner couragierten politischen Haltung, die auf der Einhaltung von demokratischen Grundprinzipien basierte – fernab von Tages- und Parteipolitik – war er immer eine kritische Stimme; was ihn zum „Gewissen des Publikums“ machte. Halil Ergün erhält den Ehrenpreis für sein unnachgiebiges Streben, die Filmkunst in der Türkei auf höchstmöglichem Niveau zu entwickeln und international hoffähig zu machen.

 

 

Volker Schlöndorff
Volker Schlöndorff
Volker Schlöndorff bei den Dreharbeiten zum Film "Die Fälschung"

Sinn und Sinnlichkeit

Das Kino des Volker Schlöndorff

Anders als viele seiner Kollegen, die einst den verkommenen deutschen Film in neue Bahnen lenken wollten, setzte Volker Schlöndorff von Anfang an nie auf reines Kopf-Kino. Obwohl ihm einst ein französischer Jesuitenpater entscheidende Impulse gab für seine eigene Entwicklung zum Künstler, zum Filmemacher, verstand er sich niemals als Mann mit einer Mission. Visionen, also Bilder und Vorstellungen, die er in bewegte Film-Bilder übersetzt, waren und sind sein Metier. Er ging in die Filmschule bei französischen Meisterregisseuren wie Louis Malle, Jean-Pierre Melville und Alain Resnais, wurde aber kein Kopist, kein Nachahmer, schon gar kein Vertreter einer „L’art pour l’art“. Und er blieb so frei, sich nicht die Zwangsjacke eines »eigenen Stils« anzuziehen. So kam es, dass jeder seiner Filme „anders“ ausschaut, sich nicht wiederholt. Und: Schlöndorff ließ sich niemals von Fernseh-Dramaturgie korrumpieren, sondern dachte und denkt stets hin zur großen Leinwand, zum Kino, jenem magischen abgedunkelten Saal, in dem das Zuschauen mit Anderen zu einem Gemeinschaftserlebnis wird. Ihn trieb nicht das Bedürfnis, Zuschauermassen in seine Filme zu locken. Dennoch gelangen ihm einige der erfolgreichsten und vor allem wichtigsten deutschen Filme der letzten 60 Jahre, einer davon sogar mit dem „Oscar“ preisgekrönt. Das war die „Blechtrommel“, Schlöndorffs kongeniale visuelle Übersetzung des Romans von Günter Grass in Bild und Spiel.

Es begann alles mit Fluchten: erst in die Welten von Rowohlts-Rotations-Romanen, US-Western und Krimis, dann suchte und fand er ein Luftloch im Mief und der Enge der Nachkriegsära, seiner Schulzeit. Er ging nach Frankreich an jenes Jesuiteninternat, dem er Entscheidendes zu verdanken hat. Etwa den gemeinsamen Besuch der Internatsinsassen in dem außerordentlichen Dokumentarfilm von Alain Resnais, „Nacht und Nebel“, einem selbst heute noch verstörenden Film über die deutsche Judenvernichtung in den Konzentrationslagern. Das war im Nachkriegsdeutschland kein Thema, schon gar nicht an den Schulen. Schlöndorff erschütterte dieser Film „nachhaltig“: Er stellte sich die so simple wie unerschöpfliche Frage: Wie war das möglich? „Innerlich bin ich nie damit fertig geworden, und fast alle meine Filme, vom Erstling ‚Törless’ bis zum ‚Neunten Tag’, suchen immer noch die Antwort auf die Frage, die dieser Kinobesuch auslöste.“

Dann blieb er zehn Jahre in Frankreich. Er lernte neue, andere Blicke auf die Welt, etwa den Blick nach Deutschland, dessen Wirklichkeit ihm so fremd erschien. Und er entwickelte, geprägt von Neugierde und Interesse, einen Blick auf Menschen und ihr seltsames Verhalten – ohne die öde Einteilung in Gut und Böse. Jeder Film von Schlöndorff gibt Zeugnis davon ab. Schlöndorff ist ohne Zweifel ein „Moralist“, der den Dialog mit der Bestie im Menschen sucht. Den Dialog, nicht das Urteil, denn er ist niemals Richter. Das Urteil fällen die Protagonisten selbst. Oder die Zuschauer. Das ist eindrucksvoll zu erleben in jüngeren Filmen wie „Der neunte Tag“ und »Diplomatie«, intensivste „Kammerspiele“, in denen von jeweils zwei Protagonisten über Leben und Tod per Dialog entschieden wird.

 1978 ist Schlöndorff einer der Initiatoren des Omnibusfilms „Deutschland im Herbst“ zur Zeit des RAF-Terrorismus. Neun Filmregisseure reflektieren hier sehr subjektiv das politische und geistige Klima in ihrem Land. Aber Schlöndorffs zentrale Domäne ist gewiss verfilmte Literatur. Max Frisch, Marcel Proust, Robert Musil, Günter Grass, Nicolas Born, Arthur Miller, Heinrich Böll und Michel Tournier sind einige der Autoren, deren Bücher die Grundlage für seine Filme lieferten. Es sind sinnstiftende Vorlagen, die er in sinnliche, lebendige Bilder zu übersetzen sucht, ohne dass daraus reine Illustrationen entstünden, sondern eben – Film, großes Kino. Bei aller Sorgfalt der Inszenierungen, vom Szenario bis zu Kamera und Schnitt, gibt es freilich ein Merkmal, das für Schlöndorff charakteristisch ist: das Spiel, die Schauspieler, die Schauspielerinnen. Ihnen widmet er seine ganze Konzentration, lässt souveränen Profis niemals Routine durchgehen und sagt: „Im besten Fall weiß der Schauspieler gar nicht, wo er hinkommt!“ – wunderbar zu sehen etwa bei David Bennet als Oskar Matzerath in der „Blechtrommel“, Angela Winkler in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ oder auch beim dänischen Schauspieler Niels Arestrup in „Diplomatie“ als deutscher Wehrmachtsgeneral, der auf Hitlers Anweisung Paris in Brand setzen soll.

Bemerkenswert und charakteristisch für Schlöndorff ist seine Erwiderung auf die rhetorische Frage „Wozu braucht der Mensch eine Identität?“ – „Als ob man ohne eine solche ein Niemand wäre ... Die Beschwörung der kulturellen Identität und schließlich das Klagen über den Verlust derselben ist mir zuwider. Im Gegensatz zur Jungfräulichkeit, die man in der Tat verlieren kann, scheint mir Identität eher etwas, das man allmählich gewinnt.“

 

Jochen Schmoldt

Halil Ergün
Halil Ergün
Halil Ergün
Halil Ergün

Der Schauspieler im Spiegel

Im Film gibt es zwei Arten von Schauspielern: die Ausführenden und die Kreativen. Während die einen lediglich ausführen, was die Regisseure von ihnen wollen, fügen andere der Figur etwas von sich hinzu, leben geradezu in ihrer Rolle. Halil Ergün gehört zu den letzteren. Kreatives Schauspiel fordert Hingabe für die Kunst und das Leben. Halil Ergün ist einer der wenigen Darsteller, der sich in den über 40 Jahren seiner Karriere diese Hingabe bewahrt hat. So konnte er schon in seinen Lehrjahren das Herz eines großen Publikums erobern. Und das bis heute. Er ist einer, der nie alt wurde und die Bewunderung und die Liebe seines Publikums nie verloren hat.

In der Geschichte des türkischen Kinos gab es viele Darsteller, die die Erwartungen ihres Publikums genau im Blick hatten. Einige dieser Darsteller wurden Idole für die Massen. Sie schafften es, das echte Leben widerzuspiegeln oder erreichten manchmal auch mit ihrer Systemkritik ein breites Publikum. Für die Zuschauer hatte ein Lächeln dieser Schauspieler eine viel tiefere Bedeutung, als ein Lächeln in der Wirklichkeit. Das Kino erwachte geradezu in ihren Gesichtern zum Leben. Halil Ergün ist einer dieser Schauspieler. Einer von denen, die zeigen, wie sich das türkische Kino in den letzten 40 Jahren entwickelt hat.

Halil Ergün hat sich seit Beginn seiner Karriere immer wieder erfolgreich erneuert, nie wiederholt und dabei immer in großen, wichtigen Produktionen mitgewirkt. Als er 1975 seine Filmkarriere begann (seine eigentliche Karriere als Schauspieler begann schon 1967 im Theater), war er noch eher der unschuldige, aufrichtige und ehrenhafte anatolische Junge.

Durch seine Zusammenarbeit mit Meisterregisseur*innen des türkischen Kinos wie Bilge Olgaç, Yavuz Özkan, Şerif Gören, Ömer Kavur, Memduh Ün, Erden Kıral und Korhan Yurtsever, wurde er auch dem breiten Publikum bekannt. Spielte Halil Ergün in seinen Anfangsjahren meisterhaft rohe und herrische Charaktere wurde sein Spiel zunehmend subtiler. Das Publikum hat diese Veränderung problemlos akzeptiert und strömte weiterhin in seine Filme.

Halil Ergün kam vom Land nach Istanbul, wo er irgendwann Yılmaz Güney kennenlernte. Mit dessen Film “İzin” (Freigang), zu dem Güney auch das Drehbuch schrieb, wurde er ein fester Bestandteil eines Genres des türkischen Kinos, das er bis dahin nur als Zuschauer kannte.

Es folgten zahlreiche weitere Filme, wie “Maden” (Die Miene), “Yol” (Der Weg), “Kaşık Düşmanı” (Der Feind im Bett), “Gülüşan”, “Kırlangıç Fırtınası” (Der Sturm der Schwalben), “Katırcılar” (Die Maultiertreiber), “Sis” (Der Nebel), “72. Koğuş” (Zelle Nummer 72), “Zincir” (Die Kette), “Kızın Adı Fatma” (Das Mädchen namens Fatma) oder “Düğün” (Die Hochzeit). Er wurde zum Star der Meisterregisseur*innen. Dabei verband ihn mit Bilge Olgaç eine besondere Beziehung, die zu mehreren erfolgreichen Kinofilmen führte.

Halil Ergün ist ein Künstler, der es liebt, sich zwischen dem “Kamera ab!” und dem “Aus!” der Regisseure zu verlieren. Wenn man möchte, könnte man ihn als typisch anatolischen Mann bezeichnen. Seine Haltung, seine Blicke, sein Verhalten zeigen das. Er ist ehrenhaft und ehrlich zugleich. Seine Charaktere zeigen den Zuschauern immer den rechten Weg. Deshalb sehen wir eigentlich uns selbst, wenn wir er in sein Gesicht schauen. Applaus für Halil Ergün...

 

Ali Can Sekmeç Aralık 2017